Im Allgemeinen habe ich sieben bis acht angelesene Bücher hier liegen und es geht nur dann mal einen größeren Schritt im Lesen weiter, wenn eine längere Bahnfahrt kommt – oder ein Urlaub.
Diesmal war das anders, drei Abende, 410 Seiten, fertig.
Der Grund immer weiterlesen zu wollen war dabei nicht literarische Qualität, Stilistik oder Spannung – anfangs lässt gerade diese eher zu wünschen übrig, denn Browder beginnt zwar mit einer brenzligen Episode aus Russland, kehrt dann jedoch sehr weit in deren Vorgeschichte zurück.
Der Grund weiterzulesen war zunächst eher Ungeduld, wann denn die Story zum Untertitel („Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde“) endlich beginnen würde. Schließlich legte das Verlagsmarketing noch einen drauf und überschreibt den beiliegenden Lesezeichen-Flyer: „Einer gegen den Kreml – ein wahrer Politthriller“.
Bleibt man geduldig und liest über den Punkt der ersten Enttäuschung hinaus, wird verständlich, weshalb Bill Browder die Entwicklung des Geschehens so genau aufzeigt.
Zum größeren Teil ist es einfach seine persönliche Verarbeitung der einschneidenden Ereignisse. Lesbarkeit oder Spannung spielten dabei kaum eine Rolle. Ist einem diese Erkenntnis als Leser erst einmal gekommen, ist es gut, den Blickwinkel auf das Buch zu ändern und die Erwartung zu korrigieren, die der reißerische Titel geweckt hat.
Der andere wichtige Grund für die einführenden Details ist: Browder ist Amerikaner. Oder besser gesagt: Fast alle der weltweit adressierten Leser sind keine Deutschen und erst recht keine Ostdeutschen mit teils spezifischer Kenntnis der Umstände, in die Browder geriet.
Die meisten Leser also bringt das, was er da so ausführlich beschreibt, vermutlich ebenso ungläubig zum Staunen, wie ihn damals beim eigenen Erleben.
Womit ich auch bei meiner Empfehlungen bin: Das Buch ist ein unbedingter Tipp, ja eigentlich ein Muss für alle „Nachgeborenen“ (Jahrgang 1980+). Ebenso auch für all die, die noch immer ihrer Ostvergangenheit nachtrauern, die das heutige Russland für eine „lupenreine Demokratie“ halten oder diejenigen, die Putins Zarismus immer wieder irgendetwas Gutes abgewinnen wollen.
Gerade durch die von tiefer Verständnislosigkeit bestimmte Sichtweise Bill Browders auf Osteuropa und Russland wird besonders deutlich, wie erschütternd-unmenschlich Diktatur wirklich ist. Browder, der aus jugendlichem Protest beschloss, Premiumkapitalist zu werden, weil seine Familie kommunistisch war, taumelt in und durch eine Welt, die ihm trotz aller gravierenden Erfahrungen fremd geblieben ist.
Dabei hat er weder verstanden, dass seine Familie, besonders sein Großvater, durchaus keine Kommunisten gewesen sind, sondern unter den freiheitlichen Bedingungen der Demokratie ein bisschen Kommunismus gespielt haben.
Noch hat er verstanden, dass er (auch heute) kein Menschenrechtsaktivist ist, sondern jemand, der durch wertevernichtendes, unmoralisches Verhalten stinkreich wurde und lediglich als Abfallprodukt seiner Verteidigung und Schuldbewältigung auch einige positive Wirkungen erzielte.
Doch auch hier erreicht das Buch eine nicht beabsichtigte Qualität.
Liefert doch diese Zusammenfassung der wirklich drastischen Geschehnisse zwei wesentliche Beweise: Was Browder, besonders jedoch denen widerfuhr, die nicht einfach aus Russland flüchten konnten – war schlecht, sehr schlecht. Putin und alle, die dafür Verantwortung tragen, sind Verbrecher und ebenso rücksichtslos-unmenschlich, wie andere Diktatoren. Und wenn sich jemand in ihren Dienst stellt oder ihr Verhalten verteidigt, konkret angesprochen seien die Herren Exkanzler Schröder und Exministerpräsident Platzeck, handelt er nicht besser.
Ebenso schlecht allerdings ist das, was Browder tat, das, wozu er sich (aus blödsinnigen Gründen, s.o.) hat machen lassen und das Gesellschaftssystem (besonders nach US Lesart), das dies bewirkte. Er ist weder Opfer noch Menschenrechtsaktivist, er ist ein menschlich tief erschütterter, dabei jedoch hinsichtlich der eigentlichen Ursachen unbelehrter Schuldiger ohne eigene Moral.
Aus Schuld schrieb er dieses Buch.
Steine werfen sollten auch wir nicht.
Bill Browder
Red Notice – Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde
Übersetzt aus dem Englischen von Hans Freundl, Sigrid Schmid
Carl Hanser Verlag
410 Seiten, ISBN : 978-3-446-44303-7
€ 21,90 (D), erschienen am: 23.02.2015