Das Ministerium des Innern und für Kommunales hat heute ausführliche Informationen zur Abwasserproblematik veröffentlicht. Auf sechs Seiten haben Experten des Hauses die zehn häufigsten Fragen zum Anschlussbeitragsrecht beantwortet, wie Sprecher Ingo Decker heute in Potsdam mittteilte. Die Fachleute erläutern unter anderem, warum überhaupt Anschlussbeiträge erhoben werden, warum in Brandenburg viele Beitragsbescheide rechtswidrig erlassen wurden und welche Beiträge zurückerstattet werden müssen. Auch geht es um die Frage, was die Landespolitik zur Lösung der Abwasserproblematik derzeit unternimmt. Die Informationen zu diesem komplexen Thema sind auch auf den Seiten des Ministeriums zu finden.
Häufig gestellte Fragen und Antworten im Zusammenhang mit der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses vom 12. November 2015 (1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14) zur Erhebung von Anschlussbeiträgen
1. Warum werden Anschlussbeiträge erhoben?
Die Herstellung und Anschaffung der zentralen öffentlichen Einrichtungen der Trinkwasser- und Abwasserentsorgung sind für die Kommunen mit erheblichen Investitionen verbunden. Nach dem Kommunalabgabengesetz für das Land Brandenburg (KAG) besteht für den jeweiligen Einrichtungsträger grundsätzlich Wahlfreiheit, ob diese Investitionen für leitungsgebundene Einrichtungen über einmalige Anschlussbeiträge (§ 8 KAG ) oder laufende Gebühren (§ 6 KAG) bzw. ggf. private Entgelte oder anteilig über Gebühren und Anschlussbeiträge (Mischfinanzierung) finanziert werden.
Für die Erhebung von Anschlussbeiträgen spricht zum Beispiel, dass durch sie die kommunalen Investitionen in der Regel schneller refinanziert werden als über laufende Gebühren. Der damit verbundene geringere Kreditbedarf der Kommunen führt im Ergebnis dazu, dass die kommunale Wasserversorgung und Abwasserentsorgung insgesamt billiger wird, als es ohne Beitragseinnahmen der Fall wäre. Überdies wirken sich die aufgebrachten Beiträge gebührensenkend aus, weil sie bei der Verzinsung und den Abschreibungen des Anlagevermögens außer Ansatz bleiben (§ 6 Abs. 2 Satz KAG).
2. Warum wurden in Brandenburg in großer Zahl rechtswidrige Beitragsbescheide erlassen?
Das Oberverwaltungsgericht Brandenburg hat das KAG mit Urteil vom 8. Juni 2000 (2 D 29/98 NE) so ausgelegt, dass Beitragserhebungen in vielen Fällen nicht mehr möglich waren.
§ 8 Abs. 7 Satz 2 KAG hatte in seiner ursprünglichen Fassung bestimmt, dass die sachliche Beitragspflicht für Anschlussbeiträge mit der Anschlussmöglichkeit, frühestens jedoch mit dem Inkrafttreten der Satzung entsteht. Nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts kam es für den Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht nicht auf die Rechtswirksamkeit der Satzung, sondern auf den ersten Satzungsversuch an.
Eine rechtswirksame Satzung musste sich demnach Rückwirkung auf den Zeitpunkt beimessen lassen, zu dem erstmals eine Beitragssatzung in Kraft gesetzt werden sollte. Bei einer solchen rückwirkenden Satzung wäre die Beitragspflicht bereits zum Zeitpunkt des ersten, ggf. lange zurückliegenden Satzungsversuchs entstanden und damit die vierjährige Festsetzungsfrist bereits in Gang gesetzt worden. Die Folge wären erhebliche Beitragsausfälle gewesen.
Daraufhin hat der Gesetzgeber § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG mit Wirkung zum 1. Februar 2004 geändert. Nach der neuen geltenden Fassung entsteht die Beitragspflicht für Anschlussbeiträge frühestens mit dem Inkrafttreten einer rechtswirksamen Satzung. Damit entfiel das vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) ausgesprochene Rückwirkungsgebot der ersten rechtswirksamen Satzung auf den Zeitpunkt des ersten Satzungsversuchs.
Das Oberverwaltungsgericht hatte am 12. Dezember 2007 (9 B 45.06) entschieden, dass Beitragserhebungen auch für die Grundstücke zulässig sind, für die nach der bis zum 1. Februar 2004 geltenden Fassung des § 8 Abs.7 Satz 2 KAG keine Beiträge mehr erhoben werden konnten. Das Landesverfassungsgericht hatte diese Auffassung mit Beschluss vom 21. September 2012 (VfGBbg 46/11) bestätigt.
Erst das Bundesverfassungsgericht hat anders entschieden, so dass für die vorgenannten Grundstücke keine Beiträge mehr erhoben werden können und die für diese Grundstücke erlassenen Anschlussbeitragsbescheide für die Herstellung der zentralen Wasserver- bzw. Abwasserentsorgungsanlage sich als rechtswidrig erwiesen haben.
3. Ist die Änderung des KAG zum 1.02.2004 Ursache für die rechtswidrigen Bescheide?
Diese Auffassung wird häufig vertreten. Sie trifft aber nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG in bestimmten Fällen für verfassungswidrig erklärt, nicht aber diese oder eine andere Regelung des KAG selbst.
Die Gesetzesänderung zum 1.02.2004 diente ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG (Landtagsdrucksache 3/6324) der Vermeidung künftiger Beitragsausfälle. Das Oberverwaltungsgericht hat im Urteil vom 12. Dezember 2007 (9 B 45.06) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für die Neuregelung durch den Gesetzgeber zwar keine Rückwirkungsanordnung getroffen wurde, kam jedoch in seiner Entscheidung zum Ergebnis, dass die rückwirkende Anwendung der Neufassung gleichwohl zulässig sei. An dieser Auffassung hat es bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2015 (1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14) festgehalten.
Die in Rede stehenden rechtswidrigen Bescheide basierten daher auf der damaligen brandenburgischen Rechtsprechung, an die die Kommunen und auch die Kommunalaufsichtsbehörden gebunden waren.
4. War nach den Diskussionen um die Altanschließerproblematik nicht absehbar, dass die Beitragserhebung für die altangeschlossenen Grundstücke nicht rechtmäßig sein konnte?
Tatsächlich wurde und wird in der öffentlichen Diskussion um die rechtswidrigen Beitragserhebungen häufig unzutreffend auf die sog. Altanschließergrundstücke abgestellt.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich allerdings gar nicht mit der Frage beschäftigt, ob für diese bereits vor dem 3. Oktober 1990 anschließbaren Grundstücke Anschlussbeiträge erhoben werden dürfen. Es ging allein um die Frage, ob die neugefasste Vorschrift des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG rückwirkend auf Fälle angewendet werden darf, in denen Beitragserhebungen bis zur Neufassung der Vorschrift nicht mehr möglich waren. Darunter fielen dann auch die sog. Altanschließergrundstücke.
5. Welche Bescheide sind nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig?
Dazu hat sich das Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 11. Februar 2016, Az. 9 B 1.16 ausführlich geäußert. Diese Entscheidung wurde im o.g. Rundschreiben vom 8.März 2016 kurz zusammengefasst. Dort ist nachzulesen, unter welchen Voraussetzungen Beitragsbescheide vom Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erfasst und demnach rechtswidrig sind.
Grundsätzlich kommen dabei Grundstücke in Betracht, die bereits vor dem 1. Januar 2000 an die zentrale öffentliche Einrichtung der Wasserver- und Abwasserentsorgung einer Kommune angeschlossen werden konnten.
6. Müssen jetzt alle eingenommenen Beiträge erstattet werden?
Zu dieser Frage hat sich das Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil 11. Februar 2016, Az. 9 B 1.16 geäußert.
Ein Anspruch auf Aufhebung der Bescheide besteht nur für noch nicht bestandskräftige Bescheide. Das sind Bescheide, die noch angefochten werden können oder über deren Widerspruch oder Klage noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Die Aufhebung des Bescheides bewirkt, dass der Beitragszahler einen Anspruch auf Erstattung der gezahlten Beiträge durch den Aufgabenträger hat.
Bereits bestandskräftige – also nicht mehr anfechtbare Beitragsbescheide – müssen dagegen nicht aufgehoben werden, ein Anspruch auf Rückerstattung der bezahlten Beiträge besteht nicht. Das ergibt sich aus § 79 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Dort steht auch, dass diese bestandskräftigen Bescheide nicht mehr vollstreckt werden dürfen. Das bedeutet, dass noch nicht gezahlte Beiträge auf bestandskräftige Bescheide nicht mehr vereinnahmt werden können. Dieses Vollstreckungsverbot erfasst auch die Fälle, in denen Beiträge gestundet bzw. Ratenzahlungen vereinbart wurden.
7. Ist derjenige, der im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der Beitragsforderungen gezahlt hat, jetzt „der Dumme“?
Diese Frage ist gut nachvollziehbar. Sie beschäftigt nicht nur die betroffenen Beitragszahler, sondern auch die Aufgabenträger. Diese können im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens auch entscheiden, dass sie auch bereits rechtswidrige bestandskräftige Beitragsbescheide gemäß § 130 Abs. 1 AO (freiwillig) aufheben.
Diese Entscheidung muss sorgfältig abgewogen werden, weil die Bestandskraft von Abgabenbescheiden letztlich der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dient.
Zudem muss die ordnungsgemäße Wasserver- und Abwasserentsorgung auch zukünftig noch gewährleistet sein. Die zuständigen kommunalen Aufgabenträger müssen also ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beachten und müssen zunächst ein tragfähiges Konzept erstellen, ob und wie die freiwilligen Beitragsrückzahlungen finanziert werden können.
Auch wenn nicht alle Beiträge zurückerstattet werden, muss doch der Grundsatz der Abgabengerechtigkeit auch im Hinblick auf eine Gesamtfinanzierung des Investitionsaufwandes durch Beiträge und Gebühren beachtet werden. Das bedeutet, dass ein Belastungsausgleich zwischen Beitrags- und Nichtbeitragszahlern auf der Gebührenseite erfolgen muss.
Das aufgebrachte Beitragsvolumen darf in der Gebührenkalkulation nur denjenigen zu Gute kommen, die Beiträge gezahlt und nicht erstattet bekommen haben (so auch das Oberverwaltungsgericht vom 6. Juni 2007, Az. 9 A 77.05). Also müssen die beitragsbelasteten Nutzer niedrigere Gebühren zahlen als die, die ihren Beitrag zurückerhalten oder gar keinen Beitrag entrichtet haben.
8. Warum kann die Landesregierung die Gemeinden und Zweckverbände nicht verpflichten, alle rechtswidrigen Bescheide aufzuheben und die gezahlten Beiträge zu erstatten?
Die öffentliche Wasser- und Abwasserentsorgung unterfällt der verfassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung. Daher entscheiden die kommunalen Aufgabenträger im Rahmen der geltenden Gesetze auch eigenverantwortlich über die Durchführung und Finanzierung der Aufgaben und die damit in Zusammenhang stehende Erhebung von Kommunalabgaben bzw. hier die Rückerstattung vereinnahmter Anschlussbeiträge. Eine Einflussnahme der Landesregierung auf diese Entscheidung auf kommunaler Ebene kann daher nicht in Betracht kommen.
9. Können die jetzt von der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung betroffenen Aufgabenträger zukünftig ganz auf Beitragserhebungen verzichten?
Ein Wechsel des Finanzierungsmodells zu einer reinen Gebühren- bzw. Entgeltfinanzierung ist grundsätzlich möglich.
Dazu bedarf es einer ausdrücklichen Entscheidung der Gemeindevertretung bzw. der Verbandsversammlung bei Zweckverbänden und entweder der Rückzahlung bereits vereinnahmter Beiträge oder einer geeigneten Entlastung der beitragsbelasteten Nutzer der Einrichtung durch geringere Gebühren.
Bei der Entscheidung für einen Wechsel des Finanzierungsmodells zu einer reinen Gebühren- bzw. Entgeltfinanzierung ist auch zu berücksichtigen, dass damit die gebührensenkende Wirkung der aufgebrachten Beiträge vollständig entfällt. Dies führt regelmäßig zu höheren Gebühren, die im Unterschied zu Anschlussbeiträgen auch Mieter belasten.
10. Was unternimmt denn eigentlich die Landespolitik in der Sache?
Zunächst handelt es sich um eine Angelegenheit in kommunaler Verantwortung, da die Wasserver- und die Abwasserentsorgung Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung sind. Aber es ist auch klar, dass die durch geänderte Rechtsprechung entstandene Situation für alle Betroffenen schwierig ist und die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung auch weiterhin bezahlbar bleiben muss.
Daher hat der Landtag am 10. März 2016 eine Entschließung (Drucksache 6/3695-B) angenommen. Danach sollen nach gründlicher Auswertung eines externen wissenschaftlichen Gutachtens zu den rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2015 (BvR 2961/14) ausgewogene Entscheidungen zu Lösungsmöglichkeiten und ggf. bedarfsweisen Unterstützung von Aufgabenträgern getroffen werden.
Dieses Gutachten wird in zwei Teilen erstellt. Der erste Teil des Rechtsgutachtens liegt bereits vor (Langfassung, Zusammenfassung). Die wesentlichen Ergebnisse wurden noch einmal in einer Kurzdarstellung veröffentlicht.
pm/red
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