Es ist Tag der Offenen Tür am Senftenberger Theater. Einige tausend Besucher umringen Stände und Aktionsbereiche, erleben Ausschnitte des Programms auf mehreren Bühnen und dringen in Führungen noch in versteckteste Winkel der Gebäude vor.
Auch ein richtiges Stück gibt es in diesem Trubel. Tags zuvor hatte die neue Produktion des Jugendspielclubs Premiere, gleich die zweite Vorstellung läuft unter den nicht eben leichten Bedingungen dieses 1. Mai. Ist auch sonst das Interesse groß, wirbelt das Fest das zur Aufführung regelrecht drängende Publikum noch gehörig durcheinander. Die begrenzten Plätze der Studiobühne reichen nicht, auch die Treppen werden genutzt – von recht kleinen Kindern bis zur Generation der Urgroßeltern ist jede Altersgruppe gut vertreten.
Während sich die Gäste irgendwie sortieren, sind die 15 Darsteller bereits auf der querformatig schmalen Bühne direkt vor, fast zwischen, den Zuschauern – und bereits im Spiel. Zeitlupenartig wiederholen sie offenbar wichtige Bewegungen. Mal erkennt man, worum es geht, mal nicht – und nicht die Gründe. Was auch egal ist. Nicht egal ist, dass sie es schaffen Fokussierung und Ausdruck unter diesen Umständen überhaupt zu halten und erste Neugier auf das Kommende zu erzeugen.
DAS TIERREICH schrieben die Ende der 1980-iger Jahre in westdeutscher Kleinstädtigkeit aufgewachsenen Michel Decar und Jakob Nolte. In der großen Stadt Berlin trafen sie als Studenten für Szenisches Schreiben der UdK aufeinander und verfassen seither Romane und Theaterstücke.
DAS TIERREICH, aufgebaut als Reigen von Fabeln zur Realität oder Realität in Fabeln, entstand 2013 und wurde sogleich mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet. Die Senftenberger Fassung haben die jungen Schauspieler selbst, im Rahmen eines Schreibworkshops, um eigene Erlebnisse angereichert – und die Vorlage somit ganz unmittelbar zu ihrem eigenen Stück gemacht. Wie gut diese Vorgehensweise funktioniert, ist sehenswert.
Theaterpädagogin Mai-An Nguyen und Schauspieler Friedrich Rößiger finden nicht nur in der szenischen und darstellerischen Arbeit mit den Jugendlichen den Weg, deren Potenzial auf die Bühne zu bringen – sie liefern mit wenigen, doch punktgenauen Bühnen- und Ausstattungsideen auch den hierzu passenden Rahmen.
So ist es zur bei „modernen Regisseuren“ zur beliebten und in der Umsetzung meist beliebigen und unangebrachten Praxis geworden, Videoeinspielungen irgendwie in jedes Schauspiel zu bringen.
Auch hier ist eine Projektion im Einsatz. In dieser Form, als W-LAN-Livebild quasi von der anderen Seite des Geschehens, eröffnet sie jedoch unaufdringlich eine zusätzliche Perspektive. Sicher muss das handlungsseitig nicht sein, ergibt jedoch eine besondere Symmetrie und Betonung – ohne vom Wichtigen, den jeweils für eine Episode im Mittelpunkt stehenden Personen, abzulenken.
Dieses Reihum, in dem die Gruppe stets eine Rolle spielt und Einzelne nacheinander sehr verschiedene Charaktere und Handlungen gestalten, ist die besondere Stärke des Stückes. Nur scheinbar führt die Reise durch das Tierreich – ist die Fabel doch immer nur die sehr kurze Metapher und Verbindung zum Tier, genannt Mensch, im Allgemeinen und zur gerade unmittelbar verkörperten Rolle sehr konkret.
Die Umsetzung des Ganzen ist äußerst textintensiv und erfordert von allen in jeder Sekunde Spiel und Ausdruck. Jeder ist zu jeder Zeit sichtbar und in unterschiedlichem Grad beteiligt, steht mal im Mittelpunkt, ist mal am Rande und mal „nur Beobachter“ des Geschehens. Doch selbst dann, wenn es unbeteiligt wirken soll, sind sie stets im Stück – und auch zeitweises „Nichtstun“ ist darin eine bewusste und konzentriert Handlung. Sehr spielstark bringen die 15 das herüber.
Sie selbst und ihre Figuren sind in diesem Alter, in dem man vom Leben tief bewegt ist. Und diese Bewegung stecken sie in teils unheimliche Ausdrucksstärke, in unheimlich hohe. Es ist dieses Stadium des Lebens: teils bereits hohe Reife und Erkenntnis – bei zugleich noch wenigen Erfahrungen, sehr vielen Wünschen, ganz vielen Zweifeln und großer Energie. All das wird spürbar und vermittelt in dieser Form zugleich eine Hoffnung weit über das Stück hinaus: Denn solange es solche Jugendlichen gibt – und solche jungen Erwachsenen, wie Mai-An Nguyen und Friedrich Rößiger – und solche Orte, die Entwicklungen gestatten und fördern, wie das Senftenberger Theater – solange muss uns und ihnen nicht bange sein, vor dem, was kommt.
Vielen Dank: Laura Ellerfeld, Justin Wohlrabe, Pauline Hoffmann, Lara Kurzweg, Toni Lange, Mika Kramer, Jessica Lehmann, Isabell Jacobs, Maximilian Wälder, Christian Wehnert, Dorothee Ellerfeld, Julia Nicklisch, Niklas Lehmann, Jasmin Naumann, Lisa Wieske – und allen hinter der Bühne.
DAS TIERREICH
Nolte Decar
Aufführung des Theaterjugendclubs der NEUEN BÜHNE Senftenberg
Studiobühne
Regie, Theaterpädagogik, Bühne und Kostüm: Mai-An Nguyen, Friedrich Rößiger
Vorabveröffentlichung aus: Kulturmagazin BLICKLICHT, Cottbus-Lausitz, Ausgabe Juni 2015
Foto: Steffen Rasche