Am vergangenen Donnerstag feierte die Stadtkirche St. Peter und Paul in Görlitz ein außergewöhnliches musikalisches Ereignis: Der Klang der Stille – ein Geburtstagskonzert zum 90. Geburtstag von Arvo Pärt, organisiert im Rahmen des Lausitz Festivals. In der monumentalen Peterskirche, einem Wahrzeichen der Stadt und zugleich geistlichem Zentrum, verbanden sich Musik, Raum und Spiritualität zu einem Abend, der wie eine göttliche Fügung wirkte.
Minimalistische Klänge in maximalistischem Raum
Die Wahl des Aufführungsortes war dabei mehr als Symbolik: Pärts Werke, geprägt von Stille, Reduktion und Tiefe, fanden in der spätgotischen Hallenkirche mit ihren endlosen Gewölben und dem langen Nachhall einen Resonanzraum, der sie geradezu potenzierte. „Minimalistische Klänge in maximalistischem Raum“ – so formulierte es Festivalintendant Daniel Kühnel in seiner Begrüßung. In diesen Mauern klang die Stille selbst, und es schien, als würde durch die Töne hindurch etwas Unsichtbares, Unaussprechliches erfahrbar.
Wie klingt Stille? Es erklingt Gott.
Die Frage „Wie klingt Stille?“ wurde an diesem Abend nicht theoretisch, sondern hörbar beantwortet: In der Musik Arvo Pärts, die Pausen nicht als Leere, sondern als gefüllte Räume versteht. Es war, als ob sich der Raum selbst öffnete, als ob direkt oben am Himmel angeklopft würde. Jeder Ton wurde zum Gebet, jeder Klang zu einem Aufleuchten des Göttlichen.
Konzertdramaturgie – von der Introspektion zur kollektiven Ekstase
Schon das erste Werk, Silouan’s Song, spannte einen Faden zwischen Himmel und Erde. Zunächst schien es, als ob die Orgel – die berühmte Sonnenorgel der Peterskirche – nur flüchtig aufglimmte, um Raum zu schaffen für das anschließende Streichorchester. Mit Trisagion kam Bewegung in den Klang: Schwebende Harmonien entfalteten sich, als ob sie außerhalb der Zeit existierten. Die emotionale Mitte des Abends bildete Pärts Stabat Mater für gemischten Chor und Streicher: Engelsstimmen, so zart und rein, dass sie einem buchstäblich die Tränen in die Augen trieben. Tief emotional, ohne je ins Sentimentale zu kippen. Musik, die den Schmerz der Welt aufnimmt und doch Hoffnung atmen lässt. Danach erklang Festina lente – ein meditatives „Beschleunige langsam“, das in diesem Raum zu schweben schien. Schließlich die Berliner Messe, die Pärts liturgische Dimension in vollendeter Form zeigte: ein Klanggebet, das den gesamten Raum erfasste. Chor und Orchester verschmolzen zu einer Einheit, die die Zuhörer in kontemplatives Schweigen führte.
Glöckchen, Tabula rasa und Qigong
Der Schlüssel zu dieser besonderen Wirkung liegt im von Pärt selbst so genannten „Tintinnabuli-Stil“, übersetzt also der Glöckchen-Methode: Wie in einem Choral fanden einige wenige Stimmen in klarer, irgendwie als göttlich empfundener Ordnung zusammen – in einer Zeit, die komplexer wurde, schwer zu durchdringen und noch schwieriger zu verstehen. Daraus entwickelte Pärt zuerst einfache Dreiklänge, gern sehr lange mit- und übereinander ausgehalten, später verfeinert und ausdifferenziert. All das wirkte wie eine Wohltat aus dem Qigong-Repertoire und prägt Pärts Kompositionsstil bis heute so entscheidend, dass seine Musik ab sofort wiedererkennbar blieb. In ihrer Simplizität wirkt sie fast archaisch, sodass manche sie gar trivial nennen mögen. Doch diese Kritik greift zu kurz. Denn die geistliche Konnotation der meisten Werke enthebt die Musik nicht nur dem Vorwurf der Banalität. Ihr größter Wert ist vor allem die Wirkung, die sie beim Publikum auszulösen vermag: Man fühlt sich weniger berauscht als beseelt, mit Sinn erfüllt, zu den Wurzeln des Lebens geführt. Pärts Ästhetik wirkt bis in unsere Tage allen aufgenötigten Kunstzwang enthoben. Seine selbstgewählte Beschränkung ist wohl der Schlüssel zu einer Art Unendlichkeit. Und so ist der Tintinnabuli-Stil eng mit der Stille verbunden – wie eine Glocke, die angeschlagen wird, deren Klang fast unmerklich in die Stille übergeht. „Stille ist immer vollkommener als Musik. Man muss lernen, ihr zuzuhören“, sagt Arvo Pärt.
Stimmen und Hände – die Interpreten des Abends
Ein solches Konzert lebt nicht allein von der Musik, sondern von jenen, die sie zum Klingen bringen. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir, seit Jahrzehnten ein weltberühmtes Ensemble für Vokalmusik und eng mit Pärt verbunden, zeigte in Görlitz einmal mehr seine unvergleichliche Präzision und Reinheit. Ihre Stimmen wirkten wie aus einer anderen Sphäre – engelsgleich, glasklar, getragen von einem leuchtenden Piano bis hin zu machtvollen Klangballungen, die den Raum vollständig erfüllten. Das Concerto Copenhagen, eines der führenden Originalklang-Ensembles Europas, brachte seine barocke Klangkultur in den Dienst der Moderne. Mit warmem, farbenreichem Streicherklang und subtiler Transparenz verlieh es Pärts Partituren eine neue, unerwartete Tiefenschärfe. Über allem stand der Dirigent Tõnu Kaljuste, seit Jahrzehnten engster künstlerischer Weggefährte des Komponisten. Mit ruhigen, klaren Gesten führte er Chor und Orchester, niemals auf äußerliche Effekte bedacht, sondern stets der inneren Logik und Spiritualität der Musik folgend. Kaljuste versteht Pärts Werk nicht nur als Partitur, sondern als geistliche Botschaft – und genau diese Haltung übertrug sich auf das Publikum.
Unbewusst bewegt – fernab des Mainstreams
Die Wirkung war überwältigend. Jenseits des täglichen, oft bedeutungslosen musikalischen Mainstreams führte uns dieser Abend in eine andere Dimension: Musik, die nicht unterhält, sondern aufrüttelt – oder vielleicht gerade wegrückt vom Lärm der Welt, um uns bewusst zu machen, was im Innersten trägt. Manches geschah „unbewusst“: Gedanken tauchten auf, verloren sich wieder, ohne dass es Worte gebraucht hätte.
Historische Tiefe – 500 Jahre Reformation
In ihrer Ansprache erinnerte Pfarrerin Dörte Paul auch an das 500. Jubiläumsjahr der Reformation in Görlitz, das in diesem Jahr ebenfalls begangen wird. So verband sich Pärts Musik – verwurzelt in der orthodoxen wie katholischen Tradition – mit der protestantischen Geschichte der Stadt zu einem ökumenischen Klangraum. Ein wahrhaft universales Zeichen, das über Konfessionen hinauswies.
Das Lausitz Festival als Ermöglicher
Dass ein solches Konzert möglich wurde, ist nicht zuletzt dem Lausitz Festival zu verdanken. Es vermag, internationale Künstler und bedeutende Orte zu verbinden, und zeigt, was in dieser Region künstlerisch und organisatorisch möglich ist. Dieses Konzert war nicht nur ein Geburtstagsgruß an Arvo Pärt, sondern auch ein Manifest für die kulturelle Kraft der Lausitz.
Musik als göttliche Fügung
„Alle Musik ist geistlich. Alles, was es in der Welt gibt. Nur der Geist ist verschieden“, hat Arvo Pärt einmal gesagt. In der Görlitzer Peterskirche wurde dieser Satz am gestrigen Abend hörbar. Sphärische Klänge, Engelsstimmen, meditatives Schweigen und monumentale Architektur verschmolzen zu einer Erfahrung, die buchstäblich göttlich wirkte. Arvo Pärts Musik, die die Stille zum Klingen bringt, fand in diesem Gotteshaus ihren vollkommenen Ort. Und so war das Geburtstagskonzert nicht nur ein musikalisches Ereignis, sondern ein geistliches Erlebnis – getragen von der Ahnung, dass in jedem Klang das Ewige mitschwingt. Das Konzert wurde live bei arte.tv übertragen und ist in der Mediathek verfügbar.
sok