Sicherlich hatte sich dies Brandenburgs Ministerpräsident anders vorgestellt, als er am Dienstagabend seiner Karosse entstieg. Sein entrücktes Gesicht jedenfalls sprach Bände. Zwei Handvoll Demonstranten empfingen ihn mit Transparenten zu seinem Gubener Wahltermin: “Woidkes Braunkohle untergräbt die Energiewende“. Woidke entert rasch das Mikrofon der Demonstranten: Nach seiner Meinung werden wir die Braunkohle noch viele Jahre brauchen. – Er bedankt sich artig, verschwindet rasch in den Räumlichkeiten.
Im Saal des Gubener Fabrik e.V. sitzen später 120 Gäste, die Hälfte davon ist allein wegen Brandenburgs verfehlter Braunkohlenpolitik erschienen. Woidke spricht über mehr Bildung, mehr Lehrer, mehr Polizisten, mehr Sicherheit. Man fragt sich unentwegt, was die SPD eigentlich die letzten Jahre in Regierungsverantwortung getan hat. Die Frage an Woidke sind gut vorbereitet. Eine Mitarbeiterin seiner Entourage trägt sie charmant vor, von diversen Erklärfilmchen im Sendung-mit-der-Maus-Stil unterbrochen. Von Kritik an Brandenburgs SPD-Politik fehlt weit und breit jede Spur. Stattdessen verteilt Woidke Seitenhiebe auf Linke und vor allem die CDU. Fehler machen nur andere.
Echte Kritik flammt erst auf, als Woidke über das Landleben spricht, das es in Brandenburg als Flächenland dringend zu erhalten gilt. Jemand ruft dazwischen, dass dies ebenso für Proschim gilt, und Atterwasch, und Kerkwitz, und Grabko. Applaus, mehr als je zuvor. Woidke gerät kurz aus dem Tritt, wiederholt, dass die Braunkohle noch für Jahrzehnte in Brandenburg Bestand haben wird, als sichere und preiswerte Energiequelle. Er lügt – und auch nicht.
Selbst Vattenfall und RWE geben zu, dass es in Deutschland viel zu viele Kraftwerke und damit zu viel Strom gibt. Braunkohlenstrom verstopft im Überangebot die Netze, weil die fossilen Großkraftwerke tagsüber in Spitzenzeiten der Erneuerbaren Energien in ihrer Trägheit nicht heruntergeregelt werden können. Also lassen die großen Energiemonopolisten sie laufen. Als Folge sinkt der Großhandelspreis, teilweise in den negativen Bereich. Alle europäischen Großabnehmer an deutschen Strommengen freut dies. Sie kommen an Strom – ungemein billig. Genau das Gegenteil von Woidkes Standardrhetorik geschieht also Tag für Tag. Preiswert ist der Strom nur für sie. Die Zeche dagegen zahlt der deutsche Kleinkunde über seine Stromrechnung. Er muss die Differenz begleichen, die bei niedrigen Börsenpreisen zu den garantierten Einspeisesätzen der regenerativen Energien entsteht. Diese Differenz hingegen fiele weit geringer aus, würde der deutsche Braunkohlestrom europaweit nicht wie ein billiger Wegwerfartikel gehandelt. Er wird sogar in Länder geliefert, die eigentlich über genügend Windenergie verfügen könnten, wie die Niederlande. Dort aber stehen emissionarme Gaskraftwerke still, von einer Investition in Windernergie ganz zu schweigen, solange billiger Lausitzer Braunkohlestrom jedes regenerative Engagement dort zunichte macht. Woidke weiß das. Aber er verschweigt es, mal wieder, auch in Guben.
Als dann an diesem Wahlkampfabend das durch Woidke arg gescheute Thema Braunkohle doch noch einmal hochkocht, schlägt er mit gut auswendig erlernten Standartparolen zurück: Gegen etwas zu sein wäre einfach. Stattdessen sollten seine Kritiker für den Landtag kandidieren, gewählt werden und dann dürften sie Vorschläge unterbreiten. – Von gegebener politischer Verantwortung gegenüber der bedrohten Menschen und Orten in der Lausitz keine Spur. Woidkes Interesse scheint nur für jene zu gelten, die nicht über der Braunkohle wohnen. In seinem merklichen Ärger drängt sich mir eine Frage auf: Was sollen die Einwohner der Orte seiner Meinung nach denn sonst tun, als gegen seine Braunkohlenpolitik zu demonstrieren? Sollen sie stillhalten? Sich ergeben? Über sich ergehen lassen, was Landesvater Woidke von ihnen erwartet? Ist der Blick aus Potsdam denn wirklich so weit, dass man nicht erkennen kann oder möchte, dass tausende Familien in der Lausitz droht, für billigen Braunkohlestrom aus ihren Häusern, ihren Gärten, ihren Dörfern – ihrer Heimat vertrieben zu werden? Welches Menschbild ist in Potsdam von der Lausitz entworfen worden? – Wer tut so etwas freiwillig?
Nachfragen gestattet Ministerpräsident Woidke an diesem Abend nicht. Wollte man eine Frage stellen, musste man diese zuvor schriftlich an seine Entourage übergeben. Über zwanzig werden aussortiert, fünf mit weniger kritischem Inhalt durch Woidkes Mitarbeiterin gestellt. Zuletzt tritt Woidke vor, fordert die Wähler im Saal auf, die SPD zu wählen. Er geht ab. – Ich fühle mich an die DDR erinnert. Jedes Jahr zum ersten Mai hielt unser Dorfbürgermeister eine ähnliche Rede auf den Sieg des Sozialismus. Ein offener Dialog war auch damals schon nicht erwünscht.
Christian Huschga