Vom zur Senftenberger Premiere anwesenden Christoph Schroth stammt der (von mir mehrfach zitierte) Satz: „Wo ich bin, ist keine Provinz!“
Was er auf seine Tätigkeit als Intendant in Cottbus bezog, muss nun sehr laut und deutlich für Senftenberg wiederholt und auf den Intendanten der Neuen Bühne, Manuel Soubeyrand, übertragen werden. „Muss“, weil sich die Provinzfrage für Senftenberg natürlich nochmals deutlicher und in der begonnenen Kreisgebiets- und Theaterreform schicksalsschwer stellt, als für Cottbus. „Muss“ jedoch vor allem, da die Neue Bühne Senftenberg mit diesem Brecht-Spektakel absolut Außerordentliches bietet.
Was nicht das Konzept betrifft, natürlich kennt man die Spielart mehrerer Stücke an verschiedenen Orten an einem Abend – jedoch betrifft das außerordentlich Gelungene jede einzelne Faser jedes einzelnen Einfalls und jedes Details der Umsetzung. Einfach alles am Spektakel rechtfertig den Aufbruch nach Senftenberg, ist Aufbruch aus dem Schon-immer-so-Gemachten und ist Aufruf zum Aufbruch, gar zur Aufruhr.
Nicht schon wieder etwas von Brecht, sondern ein anderer Brecht stand im Mittelpunkt der Idee.
Zwar mit einem Klassiker, der „Mutter Courage“, als Headliner – doch ist eben auch diese Courage (im abgefrackten VW-Bully) eine Symbiose aus frech-neuer Interpretation des Stoffes und Werktreue, der gerade dadurch nicht nur nichts verloren geht, sondern deren (leider) zeitlose Relevanz sich nochmals verdeutlicht. Manuel Soubeyrand (Regie) liefert im Verbund mit Alexander Suckel (Musik) in einer Bühne von Gundula Martin und Kostümen von (Brecht-Enkelin) Jenny Schall ein bedrückend sich steigerndes Werk, in dem Anita Iselin (Courage) zwar den Mittelpunkt bildet, jedoch Mitspieler hat, die den Entwicklungen und Schicksalen ihrer Figuren gerecht werden und sie sehr individuell zeichnen. An der einen oder anderen Stelle braucht das eine kurze Eingewöhnung und wirkt zunächst aufgesagt, funktioniert dann aber im Anspiel und Dialog rundum schnell bestens. So bleibt einem die aufgesetzte Heiterkeit der Zwischentexte bald dort stecken, wo sie hingehört, im Hals und wirkt die auch im größten Verlust stets nahezu adrette Courage bald selbst als professionelle Verstreckerin der Todesurteile über all ihre Kinder. Zwei pausenlosen Stunden, die einen beklommen in die erste große Pause entlassen, in der es neben allerlei Zwischenspiel besonders den Jahrmarkt zu entdecken gibt. Denn Brecht liebte Rummelplätze. Und dieser klein-fein-kluge und bis ins Detail liebevoll gestaltete vor dem Theater hätte ihm ganz sicher gefallen. Auch hier sind die Darsteller aktiv und locken die Besucher in die vier Zwischenstücke, von denen man an einem Abend leider nur eines sehen kann. Doch es gibt spezielle Wiederkommerkarten. Eine Chance, die man unbedingt nutzen sollte.
Denn bei der Entscheidung für ein Stück verpasst man, wie von den begeisterten Zuschauern dann zu hören war, drei jeweils ebenso empfehlenswerte.
Wer einem Rattenfänger im historischen Rollstuhl zu „Hannibal“ folgt, erlebt eben diesen (Jan Mixsa, zugleich Regie, Figuren und Bühne) gemeinsam mit Alrun Herbing in einer schon extrem verrückten Umsetzung des nur in Fragmenten erhaltenen Werkes. Sie nennen es Puppenspiel, eher ist es der performanceartige, allseits überhöhte Versuch, sich dem Brecht-Stückwerk über immerhin epochale Ereignisse zu nähern und dabei zu zeigen, dass es auch bei 40.000 Soldaten, 10.000 Pferden und (den berühmten) 37 Elefanten immer Menschen sind – oft kaum noch als solche erkennbar – die Dinge tun oder lassen – weil sie es können. Prädikat: anstrengend, sehenswert, metropolengeeignet.
Nach weiterer Pause, mit weiteren Aktionen und inzwischen anwohnerfreundlich reduziertem Rummel, geht es zum Liederabend. Der so heißt, auch aus Liedern besteht, doch weit mehr ist – ein eigenes Stück, gebildet aus vielen Brecht-Songs, vertont durch unterschiedliche Komponisten. Hier kommen sie dann zu Wort, Huren, Bürger und Gangster, Priester und Soldaten. Die stilistisch neu arrangierte und auf den Punkt hin dann doch wieder dem Traditionellen folgende, musikalische Begleitung liefern Alexander Suckel (Arrangements, Piano, Keyboard), Scotti Gottwald (Gitarre) und Jürgen Kober (Drums, Percussion, Keyboard). Er ist einfach nur großartig dieser Abschluss der einfach nur großartigen Theaternacht. In einem nahegelegenen Restaurant wurde ich abends zuvor, nach dem Dessert, gefragt, ob denn diese Abrundung gelungen sei. Unglaubwürdig aufgesagt kam diese Frage, äußerst glaubwürdig und engagiert gelingt BRECHT AUF! DAS FEST vom Beginn bis zur Abrundung, die nochmals eine Zuspitzung ist.
Denn ganz am Ende haut es einen dann auch noch ungeplant und vollkommen um. Denn da greift sich Intendant Manuel Soubeyrand das Mikrofon in bereits endlosem Applaus und Jubel, spricht kurz mit den Musikern und jagt als Zugang eine Seeräuberballade aus dem Stegreif über die Bühne, die die Zuschauer zugleich restlos begeistert, wie auch fassungslos und tief ergriffen macht – und schließlich alle von den Sitzen reißt. Stehender Applaus mit strahlendem Lachen, Kloß im Hals und feuchten Augen – wann hat man das schon gleichzeitig erlebt?
Kurz nach Mitternacht ist es da, sieben Stunden nach Beginn … von Müdigkeit keine Spur, für Langeweile war keine Zeit – ein Wow!-Gefühl nimmt mich ein, und ich muss noch das letzte Tränchen verdrücken bevor das Fest nach dem Fest beginnt.
Seid Euch gewiss und hütet Euch davor: Solange dieses Theater dort ist, ist Senftenberg keine Provinz.
Oktobertermine: 3., 9.,10.,17.,24 und 31.10. ab 17 Uhr (Vorspiel), am 25.10. ab 15 Uhr
Eine Veröffentlichung im Zusammenarbeit mit: Kulturmagazin “BLICKLICHT”, Cottbus-Lausitz, www.kultur-cottbus.de.
Foto: Steffen Rasche