Jedes Jahr am Wochenende nach Christi Himmelfahrt erwacht das kleine Westernstädtchen „Little Tombstone“ zu neuem Leben: im Saloon wird musiziert und getanzt, der Barbier freut sich über Kundschaft, Damen und Herren in edlen Kostümen flanieren durch das Städtchen, die Locci-Gang macht die Stadt unsicher und der Sheriff sorgt für Recht und Ordnung. Aber „Little Tombstone“ liegt nicht irgendwo auf dem amerikanischen Kontinent, sondern im romantischen Lößnitzgrund im sächsischen Radebeul.
Hier finden zu Ehren des berühmtesten Einwohners Radebeuls die jährlichen Karl-May-Festtage statt. Die Idee entstand 1992 nach einem Sternenritt der Karl-May-Bühnen zu Ehren Karl Mays 150. Geburtstag. 2016 fand das Fest zum 25. Mal statt und lockte wieder mehr als 30.000 Besucher auf die lange Festmeile mit 15 Veranstaltungszentren entlang der Lößnitz. „Geschichten, Märchen & Legenden“ – so das Motto in diesem Jahr.
Die Schirmherrschaft übernahm eine lebende Legende: Gojko Mitic, DEFA-Chefindianer und jahrelanger Winnetou-Darsteller bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg. In „Little Tombstone“ nahm er sich am Sonnabend Zeit für eine Autogrammstunde und sorgte dafür, daß der Andrang seiner Fans so groß und der vorgesehene Platz zu klein war, um alle Autogramm-und Fotowünsche zu erfüllen.
Immer wieder gern in Radebeul gesehen sind Vertreter der Oneida Indian Nation. Abgesandte der unterschiedlichsten indianischen Stämme gaben am „Hohen Stein“ Einblicke in ihre Kultur, sangen indianische Lieder und zeigten traditionelle Tänze. Auf vielfachem Wunsch wurde auch ein Kriegstanz gezeigt, obwohl die amerikanischen Indianer schon lange keine Kriege mehr führen.
Der Hingucker am „Hohen Stein“ war jedoch ein monumentales Felsgemälde des Künstlers Ed Bryant vom Stamm der Tsimshian Indianer. Der 18 Meter hohe „Baum des Lebens“ zeigt die drei Totemtiere Adler, Bär und Wolf, verbunden durch den Kreis des Lebens.
Das Gemälde wird noch einige Zeit zu sehen sein, ehe Wind und Wetter das Kunstwerk allmählich wegwischen.
Publikumsmagneten sind in jedem Jahr die Vorführungen der Landesbühnen Sachsen, die auch diesmal wieder Ausschnitte aus „Winnetou 1“ zeigten, sowie die legendären Bahnüberfälle auf den Santa-Fe-Express. Schon lange vor Beginn der angekündigten Überfälle postierten sich Jung und Alt entlang des Bahndammes an der Grundmühle, um von hier den besten Blick auf die wilde Schießerei zu erhaschen.
Trotz „Little Tombstone“, den Westerncamps, Fort Henry und Fort Virginia – die Karl-May-Festage sind kein reines Cowboy-und-Indianer-Spektakel. Schuld daran hat der Namensgeber des Festes. Karl May war nicht nur Old Shatterhand, der im „Wilden Westen“ seine Abenteuer erlebte, sondern auch Kara Ben Nemsi, der von seinen Erlebnissen im Orient erzählte. Auch der Balkan spielte in den Erzählungen und Geschichten Karl Mays eine große Rolle. So verwundert es auch nicht, daß während der Karl-May-Festtage Gäste aus dem Orient und vom Balkan mit Tänzen, Musik und Schattentheater Einblicke in ihre Kultur gaben.
Längst hat sich das Fest zu einem Austausch unterschiedlicher Kulturen entwickelt. Ausgelassen und fröhlich sangen und tanzten die Besucher des Festes mit den Künstlern am „Hohen Stein“ oder auf Karl Mays Geschichtenbasar.
Wie international das Publikum ist, konnte man den unterschiedlichen Sprachen entnehmen, die man im Vorbeigehen so hörte…
Zu einem guten Fest gehört auch gute Musik. Den Auftakt machten am Freitagabend „The Firebirds“ bei der „13. Freiberger Rock ‘n’ Roll & Country Nacht“. Der kanadisch-indianische Musiker George Leach trat mit seiner Partnerin Rose Johnnie-Mills am Samstag und Sonntag mehrmals am „Hohen Stein“ auf. Auf der großen Bühne in „Little Tombstone“ gab es Country-Musik von „Slow Horses“ aus Niedersachsen zu hören. Den Abschluß des Festes machte eine weitere Legende: Tom Astor, der schon mit Johnny Cash und Kris Kristofferson auf der Bühne stand, brachte seine Hits zu Gehör – allerdings mit einstündiger Verspätung, da der Künstler bei der Anreise im Stau stecken blieb.
Auch dem großem Manitu scheinen die jährlichen Karl-May-Festtage zu gefallen. Er leistete mit wunderschönem Frühlingswetter und besten äußeren Bedingungen auch diesmal wieder seinen Beitrag zu einem Fest der Völkerverständigung – ganz im Sinne von Karl May und seinem Wunsch nach Frieden und einer von Freundschaft und Nächstenliebe geprägten Welt.