Sie überlebte als 15-Jährige den Zweiten Weltkrieg. In der DDR zog sie zwei Kinder groß, nähte in Vollzeit Damenoberbekleidung. Meine Omi wurde vor zwei Wochen 90 Jahre alt. Während sie in meiner Kindheit mehr Zeit mit mir verbrachte als meine eigene Mutter, durfte ich sie zu ihrem Ehrentag nicht einmal besuchen – der Lockdown rund um den Corona-Virus trug Schuld. Trotzdem wollte ich ihr unbedingt eine Freude machen. Und das ist mir auch gelungen.
Planungsphase: Omis Geburtstagsüberraschung im Lockdown
Meine Mutter und ich machten uns bereits seit Monaten Gedanken darüber, wie wir Omis 90. Geburtstag gestalten wollten. Uns schwebte ein Überraschungsbesuch im Pflegeheim vor. Ein kleiner Ausflug in ein Café war angedacht. Doch dann kam Sars-CoV-2. Zu den Maßnahmen, um das neuartige Virus einzudämmen, gehörte auch, dass Besucher in Seniorenheimen nicht mehr erlaubt waren. Das bedeutete für mich nicht nur, dass der sonntägliche Kaffeeklatsch mit Omi ersatzlos gestrichen war, sondern auch die Geburtstagsfeier ins Wasser fiel. Mir brach es fast das Herz, wenn ich an meine leicht demente Omi dachte, die jeden Sonntag verzweifelt auf mich wartete.
Ich wollte meiner lieben Großmutter, am möglicherweise letzten runden Geburtstag ihres Lebens, eine schöne Überraschung bereiten. Dafür rief ich zunächst im Pflegeheim an. Ich durfte die Oma zwar nicht persönlich besuchen, aber ein Telefonat wäre in Ordnung und Geschenke dürften wir auch senden. Omi sollte ihren geliebten Baumkuchen bekommen, eine Musik-CD nach ihrem Geschmack und einen ganz persönlichen Gruß.
Mit zwei linken Händen gesegnet, landete mein Bastelversuch einer Collage nach gefühlten fünf Stunden in der Mülltonne. Ich durchstöberte das Internet nach schönen Alternativen für eine sehr persönliche Geburtstagskarte. Relativ schnell landete ich bei karten-paradies.de. Dort fand ich eine spezielle Kategorie für Karten zum 90. Geburtstag – perfekt für Omis Jubiläum.
Das Praktische, selbst für Bastelnieten wie mich, ist, dass ich die gewählte Vorlage individualisieren kann. Vorderseite, linke Innenseite und Rückseite gestaltete ich als Collage aus Erinnerungsbildern. Dazu gehörten Kinderbilder von Mutti und ihrem Bruder, das Hochzeitsfoto von Omi und Opi und natürlich Schnappschüsse von Omi und mir. Zudem schrieb ich ihr ein kleines Gedicht. Wo es mir an handwerklichem Talent fehlt, findet sich umso mehr Schriftsteller-Gen.
Nachdem ich mit dem Ergebnis der Karte zufrieden war, bestellte ich das gute Stück. Schon zwei Tage später hielt ich es in Händen. Mit einer besonders bemühten Pflegerin des Seniorenheims vereinbarte ich, dass ich ihr die Geschenke am Morgen des Geburtstags persönlich vor der Tür übergeben wollte. Wir besprachen, dass Omi mich dabei besser nicht sehen sollte. Sie würde nicht verstehen, warum ich nicht einfach zu ihr kommen und sie in die Arme nehmen könne.
Die Umsetzung: Freudentränen und ein gewaltiger Stich ins Herz
Mit gemischten Gefühlen fieberte ich Omis großem Tag entgegen. Ich wollte ihr so gerne eine Freude machen, gleichzeitig war die Besuchssperre sehr schmerzhaft. Ich fuhr direkt morgens von Cottbus aus zu ihrem Heim in Spremberg. Wie besprochen, kam unsere Lieblingspflegerin in Schutzkleidung zur Türe. Sie nahm mir die Geschenke ab und wollte sie Omi übergeben. Wir vereinbarten, dass ich in rund zehn Minuten anrufen könnte. Dann würde ich ein paar Worte mit meiner Großmutter wechseln.
Gesagt, getan. Den Blick größtenteils starr auf die Uhr, wartete ich nervös die zehn Minuten ab. Ich trippelte dabei den Gehweg gegenüber der Seniorenresidenz auf und ab. Zehn Minuten können unendlich lange sein. Auf die Sekunde genau wählte ich die Nummer. Die Schwester nahm den Apparat ab und leitete mich an Omi weiter.
Ich sang das Geburtstagslied, beglückwünschte sie und beteuerte ihr, wie leid es mir täte, dass ich sie nicht besuchen durfte. Bis dahin war Omi eigentlich noch ganz gefasst. Doch plötzlich hörte ich sie schluchzen. Die Schwester hatte ihr scheinbar die Geburtstagskarte übergeben. “Ich vermisse meine Kinder so,” hörte ich sie sagen. Das erste Mal im Leben, dass ich meine Oma weinen hörte, war an ihrem 90. Geburtstag.
Es war ein sehr schweres Telefonat für mich. Und ja, die Wut auf das Virus und den strikten Lockdown kroch mir anschließend eiskalt den Rücken hoch. Mir fehlen die Worte, um den Gefühlscocktail aus Trauer und unbändiger Wut zu beschreiben. Im Auto heulte ich. Dann fuhr ich nach Hause und lenkte mich mit Homeoffice-Arbeit einigermaßen ab. Eines ist sicher, den 90. Geburtstag meiner Oma werde ich nie vergessen.
Tatsächlich sollte sich die traurige Situation schnell ändern. Seit dem 09.05. sind wieder Besuche in Pflegeheimen möglich. Zwar müssen verschiedene Auflagen eingehalten werden, aber ich kann Omi endlich wiedersehen. Schon für den Muttertag bekamen wir einen Termin. Das ist nicht selbstverständlich, weil die Besucherzahl limitiert ist. Aber wir haben es auf die Liste geschafft. Die Maßnahmen rund um das Corona-Virus werden jetzt hoffentlich nach und nach gelockert. Was jetzt schon sicher feststeht ist, dass wir von nun an unsere Geschenke wieder bei Oma persönlich vorbeibringen.
Foto: Alexander Raths