2020 markiert ein Jahr der Jubiläen: das FilmFestival Cottbus (FFC) feiert seine 30. Ausgabe (3. bis 8. November), das ganze Land den 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung und das Bundesland Brandenburg den 30. Jahrestag seiner Gründung. Das FFC widmet diesen in seinem Programm gleich drei Schwerpunkte. Unter dem Titel „Drehort Brandenburg“ erkundet das FFC das Flächenland Brandenburg als äußerst vielseitige Film-Location für internationale und deutsche Produktionen, die Sektion „Von Frust und Freiheit“ erzählt erstaunlich bunte Wendegeschichten der zusammenwachsenden Grenzregion zwischen Aufbruchstimmung und Resignation. Die Reihe „Stau 1990/2020“ reflektiert mit dem Rechtsextremismus der 1990er-Jahre eine demokratiefeindliche Begleiterscheinung des Wiedervereinigungsprozesses und fragt nach den Folgen für die gegenwärtige politische Kultur.
„Drehort Brandenburg“: Von „Inglourious Basterds“ bis zum doppelten Schönborn
Jedes Jahr entstehen in Brandenburg Dutzende von Spielfilmen und Fernsehserien. Nicht nur in Potsdam-Babelsberg, sondern auch in der Fläche: Vom Havelland bis zum Oderbruch, von der Uckermark bis zur Lausitz profitieren (inter-)nationale Filmproduktionen von ganz unterschiedlichen Landschaften und guter Infrastruktur, nutzen die in der Region angesiedelten Kreativressourcen, Fachkräfte und Dienstleister. Legendär sind die Drehs für INGLOURIOUS BASTERDS in Rüdersdorf und Nauen, wo Quentin Tarantino eine französische Taverne nachbauen ließ. Für TOM SAWYER wurde der Ketziner Trebelsee zum Mississippi, die Reise von Tilda und ihrem dementen Großvater Amandus in Til Schweigers HONIG IM KOPF führte durch die Prignitz.
Für die deutsch-polnische Koproduktion ADVENTURES OF A MATHEMATICIAN, der beim FFC seine Europa-Premiere feiert, wurde auf dem ehemaligen Flughafen Cottbus-Drewitz das US-amerikanische Nuklearwaffenentwicklungszentrum Los Alamos nachgebaut. Das FFC zeigt in „Drehort Brandenburg“ Filme, denen Brandenburg als Kulisse diente, vom Oscar-Kandidaten BARBARA bis zu dem Dokumentarfilm SCHÖNBORN, einem Portrait zweier unterschiedlicher Dörfer mit demselben Namen: Schönborn im Elbe-Elster-Kreis und Schönborn in Transkarpatien.
Von Frust und Freiheit – Geschichte(n) der Nachwendezeit
Im 30. Jahr der Deutschen Einheit nimmt die Reihe die Nachwendezeit und ihre Auswirkungen in den Blick, in (Ost-)Deutschland und den ehemals sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien. Die Filme erzählen von persönlichen Karrieren und biografischen Brüchen, von Chancen, Herausforderungen und Scheitern im Transformationsprozess. Das Spektrum reicht von Wiederentdeckungen aus den 1990er-Jahren wie dem knallbunten, überdrehten Musical DON GIO (Tschechoslowakei 1992), in dem der Kapitalismus wenige Augenblicke nach Öffnung des Eisernen Vorhangs wie ein Raubtier über ein Provinztheater und eigentlich das ganze Land herfällt, bis zu GRENZLAND. In seinem neuesten Film reist Andreas Voigt 28 Jahre nach Erscheinen seines Dokumentarfilmklassikers „Grenzland – eine Reise“ erneut in die Grenzregion zwischen Deutschland, Polen und Tschechien. An Oder und Neiße trifft er sogar Protagonisten von damals wieder. Diese Begegnungen erzählen von Hoffnungen und Enttäuschungen einer Gesellschaft, in der die einen resignieren und die anderen einen Aufbruch gewagt haben.
„Stau 1990/2020“: Gewalttätiger Rechtsextremismus als Begleiterscheinung des Wiedervereinigungsprozesses
In den 1990er-Jahren gehörte der Zulauf für rechtsextreme Parteien und rechtsextreme Subkulturen, zu den Begleiterscheinungen des Vereinigungsprozesses im Osten Deutschlands. Ähnlich wie heute strebte die „Neue Rechte“ damals eine Deutungshoheit zu bestimmten Themen an, ähnlich wie heute spielten jugendliche Subkulturen eine tragende Rolle „auf der Straße“. Kriminologen und Filmemacher erkundeten in den letzten Jahren der DDR und kurz nach der „Wende“ ein Thema, das nicht in das offizielle Erscheinungsbild des Sozialismus passte und als „Rowdytum“ verharmlost wurde. Nach der Wiedervereinigung häuften sich gewalttätige Übergriffe, immer mit schwerwiegenden, oft mit tödlichen Folgen für die Opfer. Die Angriffe auf die Wohnheime in Hoyerswerda, Wittenberge und Rostock-Lichtenhagen stehen für traurige Tiefpunkte – wie heute die Hetzjagd auf Ausländer in Chemnitz oder der Anschlag auf die Synagoge in Halle.
Die Reihe „Stau 1990/2020“ geht zurück in die 1990er-Jahre, wirft einen Blick auf Dokumentarfilmklassiker wie UNSERE KINDER und STAU – JETZT GEHT’S LOS. Gemeinsam mit Filmemachern wie Thomas Heise und Pablo Ben-Yakov (LORD OF THE TOYS) sowie Zeitzeugen und Experten wie der Cottbuser Sozialarbeiterin Barbara Domke und dem Berliner Kriminalisten Bernd Wagner fragt das FFC, welche Langzeitwirkung die „Baseballschlägerjahre“ für die anhaltende Verrohung und Bedrohung der politischen Kultur in Ostdeutschland vom rechten Rand her haben.
pm/red
Foto: FFC