Die Sucht hat viele Gesichter und ist alles andere als ein Randphänomen. Stattdessen ist die Sucht nicht nur in der deutschen Gesellschaft allgegenwärtig und betrifft Millionen von Menschen, teilweise sogar in Kombination als Doppel- oder Mehrfachsüchte. So sind viele Alkoholabhängige zugleich chronische Raucher, um nur ein Beispiel zu nennen. Laut Bundesministerium für Gesundheit sind rund 14,7 Millionen Menschen in Deutschland zigarettenabhängig. 1,8 Millionen leiden unter Alkoholsucht und etwa 2,3 Millionen Menschen sind von Medikamenten abhängig. 600.000 Menschen leiden unter Drogensucht und rund 500.000 Menschen haben mit einer Sucht nach Glücksspiel zu kämpfen. Die Dunkelziffern sind vermutlich deutlich höher und hinzu kommen weitere Süchte, welche in der Statistik bislang noch nicht erfasst wurden: die Smartphone-, Kauf- oder Sexsucht beispielsweise. Dies macht deutlich, wie unterschiedlich die Ausprägungsformen der Diagnose Sucht sein können. Aber woher rührt die Problematik?
Definition: Sucht ist mehr als „nur“ eine Abhängigkeitserkrankung
Viele Menschen gehen davon aus, der Begriff „Sucht“ beschreibt ausschließlich eine Abhängigkeitserkrankung. Das stimmt allerdings nicht ganz. Zwar umfasst die Sucht auch Abhängigkeiten von Substanzen, jedoch ebenso abhängige, missbräuchliche oder riskante Verhaltensweisen in Bezug auf nichtstoffgebundene Suchtmittel – beispielsweise eben das Glücksspiel oder das Online-Shopping.
Die WHO definiert die Sucht deshalb als einen Zustand des Kontrollverlustes über das eigene Verhalten und ein unbezwingbares Verlangen. Diesem Verlangen wird der Verstand untergeordnet. Dadurch entsteht eine Schädlichkeit für den Betroffenen sowie unter Umständen für die Gesellschaft. Die freie Persönlichkeitsentfaltung wird eingeschränkt, die sozialen Bindungen leiden und ebenso die Karriere, um nur einige negative Konsequenzen zu nennen. Je nach Suchtmittel, zerstören die Individuen ihre Gesundheit bis hin zum Tod. Eine Sucht ist in jedem Fall mit dramatischen Schicksalen in Verbindung zu bringen – oft nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für deren Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen & Co.
Viele Süchte – eine Ursache: Was steckt hinter dem Zwang?
Es gibt nicht nur viele verschiedene Arten von Süchten, sondern auch mindestens ebenso viele unterschiedliche Theorien darüber, weshalb Menschen süchtig werden – oder eben nicht. Hinter jeder Sucht steckt aber schlussendlich dieselbe Ursache: Der Verlangen nach dem Suchtmittel ist stärker als der Verstand, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Drogen, Zigaretten, Medikamente, Glücksspiel oder eine andere Substanz beziehungsweise ein anderes Verhalten handelt. Schlussendlich triggert das Suchtmittel in irgendeiner Art und Weise das menschliche Belohnungssystem im Gehirn.
Die Sucht „belohnt“ das limbische System im Gehirn
Dieses Belohnungssystem befindet sich im limbischen System des Mittelhirns und genau hier sitzen all die positiven Empfindungen wie Euphorie, Freude oder Optimismus. Wird das Belohnungssystem also angeregt, schüttet es eine Reihe an Glückshormonen aus, allen voran den Botenstoff Dopamin. Damit der Mensch am Leben bleibt, hat die Evolution aber erwirkt, dass Dopamin bei allen lebenswichtigen Handlungen ausgeschüttet wird: Essen, Geschlechtsverkehr oder sogar das Atmen. Ziel ist also, dass der Mensch nach diesen Handlungen „süchtig“ wird, um langfristig zu überleben. Von einer krankhaften Sucht wird jedoch erst gesprochen, wenn diese Dopaminwerte weit über der Norm liegen, beispielsweise nach dem Drogenkonsum, beim Sex oder auch während des Glücksspiels. Dieser übermäßig hohe Dopaminspiegel sorgt für ein ebenso übermäßig hohes Verlangen, diese Handlung zu wiederholen. Amphetamine haben beispielsweise eine aufputschende Wirkung. Das Glücksspiel steigert das Selbstwertgefühl. Und das Rauchen wirkt auf viele Menschen entspannend. In irgendeiner Art und Weise beeinflussen die Suchtmittel also stets das Belohnungssystem. Obwohl der Verstand die negativen Langzeitfolgen der Sucht durchaus abschätzen kann, bringt das Gehirn das Suchtmittel mit diesen positiven Gefühlen in Verbindung – und besiegt den Verstand.
Wieso wird nicht jeder Mensch süchtig?
Mit diesem kurzfristigen Hochgefühl wird aber jeder Mensch im Leben früher oder später konfrontiert. Sei es nur beim Pokern mit Freunden, dem Geschlechtsverkehr mit dem Partner oder dem Shopping mit der Schwester. Wieso also werden einige Personen süchtig, viele andere hingegen nicht? Zwar liegt die Ursache einer Sucht im Gehirn, jedoch müssen einige weitere Voraussetzungen gegeben sein, sodass ein Mensch aufgrund des Belohnungssystems auch tatsächlich süchtig wird. Genetische Faktoren spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Lebensgeschichte, die psychische Verfassung der Person sowie ihr soziales Umfeld. Wie wichtig letzterer Aspekt wirklich ist, bewies bereits in den 1970er Jahren der kanadische Psychologe Bruce Alexander. In seiner Studie griff er eine vorherige Untersuchung auf, laut welcher Ratten, wenn sie die Wahl zwischen Wasser mit oder ohne Morphin hatten, fast ausschließlich die „Drogen“ wählten und zu großen Teilen an einer Überdosis starben. Klar, dass diese Ratten ein trostloses Leben in kleinen sowie leeren Käfigen führten.
Menschen brauchen ihren persönlichen „Rat Park“
Alexander wollte hingegen beweisen, dass Süchte und das soziale Umfeld eines Lebewesens eng zusammenhängen. Er baute deshalb den „Rat Park“ und bot den Ratten ein vergleichsweise schönes Leben in Gesellschaft, mit ausreichend Platz, Futter, Spielsachen und Ruheplätzen. Ein Paradies für Ratten sozusagen – und prompt wählten nur noch wenige Tiere das Wasser mit Morphin. Todesfälle aufgrund einer Überdosis wurden überhaupt keine gezählt. Die Studienergebnisse wurden mittlerweile in zahlreichen weiteren Untersuchungen, auch bei Menschen, bestätigt. Der Grund, weshalb also einige Personen süchtig werden und andere nicht, hängt zu großen Teilen von ihrem sozialen Umfeld ab, wenn auch nicht ausschließlich. Wie bereits erwähnt, können zudem Schicksalsschläge, psychische Ausnahmesituationen oder eine genetische Veranlagung die Sucht begünstigen.
Die Frage, weshalb nicht jeder Mensch süchtig wird, hat deshalb nicht die eine, schnelle und richtige Antwort – leider, denn das würde auch die Behandlung einer Sucht deutlich vereinfachen.
Teufelskreis: Die Sucht führt in eine Abwärtsspirale
Eine Sucht überhaupt zu behandeln, ist insofern wichtig, als dass sie unweigerlich in einen Teufelskreis führt. Um die gewünschte Dopaminausschüttung zu erreichen, brauchen die Betroffenen das Suchtmittel immer häufiger und oft auch in steigender Dosierung. Lässt die Wirkung nach und es folgt die „Ernüchterung“, geht es ihnen aber schlechter als zuvor, sodass sie erneut zum Suchtmittel greifen. Ihr schlechtes Gewissen und die Ängste vor den Folgen der Sucht wachsen. Um diese zu betäuben, benötigen sie wieder mehr Dopamin und immer so weiter…
Eine Sucht ist eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale, aus welcher nur die wenigsten Betroffenen aus eigener Kraft wieder herausfinden. Ein klassisches Beispiel sähe wie folgt aus:
- Schlafprobleme
- Behandlung mit rezeptfreien Medikamenten
- Gewöhnung an die Medikamente
- Erhöhung der Dosis
- Andauernde Müdigkeit und abfallende Leistungsfähigkeit
- Verlust des Arbeitsplatzes
- Wechsel zu verschreibungspflichtigen Medikamenten vom Schwarzmarkt
- Erhöhung der Dosis
- Erste finanzielle Probleme durch die Sucht
- Scheidung
- Betäubung der Einsamkeit durch die Medikamente
- Schuldenfalle
- Obdachlosigkeit
- usw.
So oder so ähnlich kann eine Abwärtsspirale durch Süchte aussehen. Auch, wenn jedes Schicksal individuell ist, ist das Ende einer Sucht niemals positiv. Ein frühes Handeln kann den Betroffenen deshalb helfen, bevor ihnen das Wasser bereits bis zum Hals steht. Auch bei der Therapie gibt es aber leider kein Patentrezept.
Wege aus dem Zwang: Wer oder was hilft Süchtigen?
Das Problem ist häufig, dass die Süchtigen sich ihr Problem nicht eingestehen wollen oder dafür schämen. Sie suchen sich deshalb erst spät oder überhaupt kein Hilfe. Wichtig ist daher, die Sucht frühzeitig zu erkennen sowie zu akzeptieren. Spätestens, wenn Angehörige, Freunde oder Experten wie der Hausarzt sie auf das fragwürdige Verhalten ansprechen oder sogar das Wort „Sucht“ in den Mund nehmen, sollten Betroffene einen ehrlichen Blick auf sich selbst werfen. Anschließend gilt es, die Erkrankung als solche zu akzeptieren und den Mut zu fassen, sich beim Hausarzt, bei einem Psychologen oder einer Suchberatungsstelle wie bei der Caritas in Behandlung zu begeben. Nur so kann anschließend ein individueller Therapieplan entworfen werden.
Hierbei geht es in der Regel darum, einerseits die Ursachen der Sucht zu klären und andererseits Strategien zu entwickeln, um nachhaltige Wege aus der Sucht zu finden, diese zu heilen und einen Rückfall in Zukunft präventiv zu verhindern. Wer unter einer Sucht leidet, ist also keinesfalls alleine mit seiner Problematik und sollte niemals die Hoffnung aufgeben. Der Verstand kann das Verlangen (wieder) besiegen. Allerdings ist das nur in den wenigsten Fällen aus eigener Kraft möglich. Wer sich hingegen Hilfe sucht und sein Leben umstellt – Stichwort „Rat Park“ – der hat beste Chancen, als Sieger aus dem Kampf gegen die Sucht hervorzugehen.
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