Die Entscheidung in Karlsruhe zur Altanschließerfrage löste heute viele Reaktionen aus. Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichtes Berlin-Brandenburg zur Heranziehung von Grundstückseigentümern aus Cottbus zu Kanalanschlussbeiträgen gekippt und an das Oberverwaltungsgericht zurück verwiesen.
Diskussionen über die Altanschließerbeiträge gibt es seit einigen Jahren nicht nur in Cottbus, auch andere Gemeinden Brandenburgs haben Bescheide verschickt. Einige tausend Grundstücksbesitzer erhielten Forderungen über Kanalanschlussbeiträge auf Grundlage des Kommunalabgabegesetzes des Landes Brandenburg. Dagegen hatten sich einige Eigentümer gewehrt, im konrekten Fall ging es um zwei Cottbuser Grundstückseigentümer, deren Fall verhandelt wurde. Ihre Grundstücke waren bereits vor dem 3.10.1990 an das Kanalsystem angeschlossen, die Bescheide über die Zahlung eines Anschlussbeitrags ergingen im Mai 2009 und November 2011. Die Richter begründeten ihre Entscheidung mit dem Grundgesetz: Die Entscheidungen, gegen die die Eigentümer klagten verletzen ihre Grundrechte nach Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz. Das Kommunalabgabengesetz in Brandenburg wurde 2004 geändert und hat materielle Auswirkungen auf davor liegende Fälle. Dadurch hat es eine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung. Konkret heißt das, die Beitragsnachforderungen an Altanschließer sind verjährt und Nachforderungen verfassungswidrig.
Peter Albert von der Kanzlei Kelleners und Albert, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht und Miet-und Wohnungseigentumsrecht, betreut selbst einige Fälle und äußert sich zur Entscheidung: “Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist wieder Leben und Hoffnung in die schon für tot geglaubte Altanschließerdiskussion gekommen. Mit der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts dürften sämtliche (noch nicht rechtskräftigen) Beitragsbescheide gegenüber Grundstückseigentümern, deren Grundstücke bis Ende 1999 an die Schmutzwasserkanalisation der Stadt Cottbus angeschlossen waren oder hätten angeschlossen werden können, rechtswidrig sein. Möglicherweise können von dieser Entscheidung aber auch diejenigen Grundstückseigentümer profitieren, deren Beitragsbescheide rechtskräftig und damit unanfechtbar geworden sind.”
Verwaltungen, politische Parteien und Verbände äußerten sich zu dem Urteil:
SPD-Landtagsabgeordneter Ralf Holzschuher: „Die Entscheidung aus Karlsruhe ist wichtig und von grundlegender Bedeutung. Es gilt nun zunächst, die Erwägungen der 2. Kammer des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht und die konkreten Auswirkungen der Entscheidung gründlich zu prüfen, bevor sie im Detail bewertet werden können. Für die SPD-Landtagsfraktion bleibt in jedem Fall das Ziel der Rechtssicherheit und Abgabengerechtigkeit auch in diesem Bereich vorrangig.“
Innenminister Karl-Heinz Schröter: „Mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes ist eine neue Situation eingetreten. Der Beschluss und seine Begründung müssen jetzt sehr sorgfältig geprüft und ausgewertet werden. Einen entsprechenden Auftrag an die Kommunalabteilung meines Hauses habe ich bereits erteilt. Für eine belastbare Einschätzung der rechtlichen und finanziellen Folgen ist es gegenwärtig noch zu früh. Ich gehe davon aus, dem Landtag und seinen Gremien im Januar ausführlich über die möglichen Konsequenzen aus diesem Beschluss berichten zu können.“
Stadt Cottbus: Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zu den Kanalanschlussbeitragsverfahren hat die Stadtverwaltung Cottbus zunächst alle Arbeiten in dieser Sache gestoppt, „Wir haben die Verfahren angehalten, weil sich durch das Urteil eine neue Rechtslage ergibt. Daran ist das Handeln einer Verwaltung gebunden”, sagte Oberbürgermeister Holger Kelch. So werden per Donnerstag weder Widerspruchsbescheide noch Neu-Bescheide verschickt.
Das Gericht hatte mit Beschluss vom 12. November 2015 die bisherigen gesetzlichen Regelungen des Landes Brandenburg für nicht verfassungskonform erklärt. Damit ist nach Auffassung der Stadtverwaltung Cottbus nunmehr das Land Brandenburg gefordert, eine verfassungskonforme Regelung auf den Weg zu bringen. Dazu müsste das Kommunalabgabengesetz des Landes geändert werden. Die Verfahren wurden durch das Verfassungsgericht an das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zurückgegeben. Die Verfahren sind damit juristisch noch nicht abgeschlossen.
Welche Folgen aus dem am Donnerstag veröffentlichten Beschluss, der anstehenden Gesetzesänderung und aus neuen Urteilen des Oberverwaltungsgerichts für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Unternehmen zu erwarten sind, ist derzeit offen.
Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V.: Dem obersten deutschen Gericht zufolge verstößt die Grundlage der Nacherhebungen, das Kommunalabgabengesetz des Landes Brandenburg in seiner Fassung vom 1. Februar 2004, gegen das grundgesetzlich verankerte Rückwirkungsverbot. In der Begründung seiner Entscheidung greift das Bundesverfassungsgericht die Argumentation eines Gutachtens von Prof. Dr. Udo Steiner und Dr. Antje Demske auf, das bereits 2008 vom BBU angestoßen und vom Verband seither immer wieder in Politik und Verwaltung bekannt gemacht worden war. Der BBU hatte immer wieder sehr deutlich auf seine erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Regelungen zu den Verjährungsfristen von Nacherhebungen von Altanschließern hingewiesen.
Die Summen sind erheblich: Allein von seinen Mitgliedsunternehmen sind dem BBU Beitragsnachzahlungen in Höhe von rund 60 Millionen Euro bekannt. Das entspricht fast 14 Prozent ihrer 2014 geleisteten Jahresinvestitionen. Insgesamt drohten sogar Nachforderungen von bis zu 340 Millionen Euro. Kern: „Wir sind sehr froh, dass mit dieser Entscheidung eine jahrelange Diskussion nun hoffentlich zu einem guten Ende findet.“
Der BBU geht davon aus, dass jetzt alle anhängigen Widerspruchsverfahren gegen Beitragsnachforderungen im Licht der höchstrichterlichen Beschlusses entschieden und die zu Unrecht erhobenen Beiträge zurückerstattet werden.
Jürgen Maresch, parteiloser Stadtverordneter in Cottbus: “Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Hinblick auf die rechtswidrige Erhebung von Altanschließerbeiträgen muss auch personelle Konsequenzen im Rathaus Cottbus nach sich ziehen. So sind die Verantwortlichen im entsprechenden Bereich des ehemaligen Beigeordneten Nicht zur Verantwortung zu ziehen und abzulösen. Es ist eben nicht nur der nicht mehr aktive Herr Nicht , der hier eine unrühmliche Rolle spielte. Auch sollten die Parteien der SPD, Linken und Grünen- die also, die das rechtswidrige Verfahren mit aller Konsequenz und gegen den Bürger durchsetzten wollten- sich bei den Bürgern der Stadt entschuldigen und selbst personelle Konsequenzen ziehen. Das Vertrauen der Cottbuser Bevölkerung an sich wurde durch diese Lokalpolitiker massiv verspielt. Die Stadt kann den eben eingebrachten Haushalt 2016 völlig neu erarbeiten. Durch die politische Blindheit der benannten Politiker und der Verwaltung der Stadt Cottbus ist immenser materieller und politischer Schaden entstanden. Die Verantwortlichen in den Parteien sollten zurücktreten und eben diese Verantwortung übernehmen. Cottbus steht vor schweren Zeiten.”
BVB / FREIE WÄHLER: Die heute veröffentliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ein historischer Meilenstein in der Wiederherstellung rechtsstaatlicher Strukturen im Bereich der Abwasserbeitragserhebung im Land Brandenburg. Die Position von BVB / FREIE WÄHLER, für die wir seit Jahren kämpfen und zum Schluss allein gegen SPD, CDU, Linke und Grüne standen, wurde durch die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts voll bestätigt.
Im September hatte die Landtagsgruppe BVB / FREIE WÄHLER bereits den Antrag im Landtag gestellt, die Möglichkeit der galoppierenden Verjährung aus dem Kommunalabgabengesetz zu streichen. Zum Leidwesen zigtausender Betroffener wurde dies von SPD, CDU, Linke und Grünen abgelehnt. Unzählige Menschen in Brandenburg sahen sich Beiträgen in horrender, oft existenzbedrohender Höhe ausgesetzt. Dass dies so lange praktiziert werden konnte, wirft ein trauriges Licht auf die Kommunalabgabenstruktur im Land. BVB / FREIE WÄHLER wirbt seit Anbeginn für eine kommunale Kostenkontrolle, die die Zweckverbände zu rechtmäßigem Verhalten anhält, sparsam und ressourcenschonend arbeitet und sozialverträgliche Abgabenhöhen beachtet.
All dies war bisher durch eine breite politische Mehrheit im Landtag nicht gewollt. Das Bundesverfassungsgericht bescheinigt ihr nun verfassungswidriges Verhalten und bestätigt vollumfänglich die Position von BVB / FREIE WÄHLER.
BVB / FREIE WÄHLER im Landtag Brandenburg fordert nun die sofortige Rückzahlung der auf verfassungswidriger Grundlage erhobenen Beiträge. Zugleich muss die Erhebung aller Altanschließerbeiträge sofort gestoppt werden. Eine Komplettrevision des Kommunalabgabengesetzes muss unverzüglich erfolgen. Die im Landesnetzwerk von BVB / FREIE WÄHLER organisierten Wählergruppen werden landesweit die Umstellung in den einzelnen Zweckverbänden kontrollierend begleiten. Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss endlich den Startpunkt für eine faire, gerechte Abgabenstruktur im Land Brandenburg bedeuten.
Der stellvertretende Landesvorsitzende Hans-Peter Götz der FDP Brandenburg: “Großartig! Und wieder einmal: Den ganzen Ärger hätte man vermeiden können, wenn der Brandenburger Landtag bei der Neufassung des Kommunalabgabengesetzes vor drei Jahren der Position der Freien Demokraten im Landtag gefolgt wäre. Aber Rot/Rot wusste es ja wieder einmal besser. Der Verwaltungsaufwand, der jetzt auf die Wasserver- und Abwasserentsorger zukommt ist gewaltig.”